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Stefan Matteikat * Zukunft der Produktion -- Das Internet der Dinge (was: [ox-en] Conference documentation / Konferenzdokumentation)



Zukunft der Produktion -- Das Internet der Dinge
================================================

Stefan Matteikat [smatteikat at web.de]

Den Titel "Zukunft der Produktion" fand ich ursprünglich für diesen
Vortrag ziemlich reißerisch, da ich nur über einen einzigen Teilaspekt
der Produktion mit dem Untertitel "Internet der Dinge" reden möchte.
Nun hat jedoch Wolfgang Pircher in seinem Vortrag einige interessante
Details über die Vergangenheit der Produktion erwähnt, die in einigen
meiner Ausführungen durchaus eine Entsprechung finden könnten.
Insofern fügt sich diese Überschrift doch ganz gut in den
Gesamtkontext.

Zunächst jedoch möchte ich einige Bemerkungen über den Ausgangspunkt
meiner Betrachtungen machen. Ich möchte diesen an dieser Stelle nicht
überbetonen; wir haben auf dieser Konferenz bereits gesehen, daß man
mit ganz verschiedenen Ansätzen zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommen
kann.

Mein Ausgangspunkt ergab sich aus der Lektüre der Marx-Interpretation
"Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft" von Moishe Postone.
Eingangs heißt es da zum Grundwiderspruch des Kapitalismus:

Mit Blick auf die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit kann der
Grundwiderspruch des Kapitalismus verstanden werden als wachsender
Widerspruch zwischen der Art der Arbeit, die die Menschen im
Kapitalismus verrichten und der, die die Menschen verrichten könnten,
wenn der Wert abgeschafft wäre und das in kapitalistischer Form
entwickelte Potential reflexiv genutzt würde, um die Menschen von der
durch ihre eigene Arbeit konstituierte Herrschaft entfremdeter
Strukturen zu befreien.

[1, S.70]

und etwa 500 Seiten später folgt die Schlußfolgerung, Ziel sei

eine Gesellschaft, in der gesellschaftlicher Reichtum die Form
stofflichen Reichtums hat.

[1, S.598]

Wie aber wäre dieses Ziel zu erreichen?

Wenn man heute die Herausbildung der Warengesellschaft, des
Kapitalismus untersucht, so kommt man zu dem Schluß, daß es ein
Zusammentreffen einer Unmenge von Faktoren war, das schließlich zur
Herausbildung dieser Produktionsweise[1] führte. Viele davon sind so
unscheinbar, daß sich einem der Gesamtzusammenhang nicht sofort
erschließt. Ein Beispiel: unlängst las ich einen Hinweis über die
Rolle des Leerzeichens für das stille Lesen und damit für die
Wissensaneignung.[2]

Es wäre also interessant, zu prüfen, ob es nicht auch in unserer
alltäglichen Umgebung Dinge gibt, die auf die Überwindung des
Kapitalismus hinweisen könnten. Betrachtet man die Waren, mit denen
wir ständig hantieren, so sehen wir auf fast jedem Produkt diesen
Strichcode, der die Artikelnummer enthält. Er ist praktisch
allgegenwärtig und fällt Niemandem mehr auf.

Nun gibt es allerdings heute eine Entwicklung, welche in
Weiterentwicklung dieses Strichcodes völlig neue Dimensionen
erschließen könnte: das Internet der Dinge.

Unter diesem Titel gibt es einige Projekte; ich beziehe mich hier
ausschließlich auf eine Entwicklung, die (unter Beteiligung der
namhaftesten Global Player der Warenproduktion) am MIT entwickelt
wurde mit der Zielstellung, den Lebenszyklus der Produkte zu
verfolgen.[3] Es ist dies strikt in kapitalistischer Weise
entwickeltes Potential [s.o.], mit der Zielstellung der Verbesserung
der Warenverfolgung, der Schaffung eines geschlossenen
Logistikkreislaufs und der Senkung der Lager- und Personalkosten. Bei
voller Realisierung des Konzeptes würde man also volle Transparenz des
Produktionsablaufs und der Lieferketten erlangen.

Zur Technologie im Einzelnen: Die erste Komponente sind das
elektronische Etikett und die entsprechenden Lesegeräte, welche -
basierend auf der RFID-Technologie, das automatische Auslesen der
Daten ermöglichen sollen. In letzter Zeit wurden in den Medien und
darüber hinaus etliche Diskussionen über dieses Thema geführt. Etwa in
der c't 9/2004 "RFID - die Schnüffelchips"[4]. Darauf hier einzugehen,
würde den Rahmen dieses Workshops sprengen.

Viel interessanter ist für mich in diesem Zusammenhang die nächste
Komponente: EPC, der elektronische Produktcode. Der stellt nämlich
etwas völlig Neues dar: eine global gültige Produktnummer, mit der
jedes einzelne Produkt, das in Zukunft hergestellt wird, eindeutig
identifiziert werden soll.

Kurz zum Aufbau dieser Nummer: Sie wird der Inhalt des elektronischen
Etiketts sein und besteht aus einem Header, welcher die Art der
Produktnummer spezifiziert, dem EPC-Manager (im Normalfall die
Firmennummer), der Objektklasse (entspricht der Artikelnummer, also
dem, was heute auf dem Barcode steht) und der Seriennummer. Die
Wertebereiche unterscheiden sich je nach Verwendungszweck; in diesem
Zusammenhang ist bemerkenswert, daß bereits in der Entwurfsphase eine
Nummernart auch für Privathaushalte vorgesehen ist: eine ursächlich
für den industriellen Gebrauch geschaffene Technologie soll also
allgegenwärtig werden. Hier zeigt sich wieder die häufig diskutierte
fließende Linie zwischen Produktion und Konsumtion. Hierzu zitiere ich
nochmals Postone: Was den Kapitalismus auszeichnet ist, daß - auf
einer tiefen systemischen Ebene - die Produktion nicht um der
Konsumtion willen stattfindet. [1, S.284] Was aber ist, wenn diese
Unterscheidung mehr und mehr zu verschwinden scheint?

Mit seinen 96 Bit soll der EPC - dem White Paper zufolge - ausreichen,
um "jedes Reiskorn" durchzunummerieren. Es gibt zweifellos Firmen, die
das auch gerne realisiern würden, aber das Beispiel dient natürlich in
erster Linie der Illustration.

Die nächste Komponente ist der Savant. Ich habe noch keine schlüssige
Übersetzung dafür gefunden; wörtlich heißt es "Gelehrter". Diese
Komponente ist verantwortlich für die Verwaltung der Rohdaten und
deren Weiterleitung in aufbereiteter und standardisierter Form. An
dieser Stelle zeigt sich eine besonders interessante Eigenschaft der
gesamten EPC-Technologie: die Datenhaltung der Rohdaten erfolgt "on
the edge". Es gibt in diesem Sinne keine zentrale Datenbank, bzw. muß
sie nicht zwingend geben, sondern die Daten werden dezentral gehalten.

Aber all das wäre noch keine wirklich neue Qualität. Doch über die
weiteren Komponenten, den ONS - Object Name Server, in Analogie zum
DNS, dem Domain Name Server des Internet zuständig für die
"Verkittung" von Produktnummer und dazugehöriger Information, und die
PML, die Physical Markup Language, erfolgt die Verknüpfung eines jeden
Produkts mit seiner physischen Produktbeschreibung. Diese ist als
Web-Seite konzipiert und kann zu jedem Zeitpunkt des Lebenszyklusses
eines Produkts Informationen enthalten über seine Zusammensetzung,
seine physischen Eigenschaften, die Lagertemperatur, der es ausgesetzt
war, sein Gewicht, den Hersteller, gegebenenfalls mit Namen und
Adresse usw. und ist, das ist entscheidend, online verfügbar bzw.
könnte dies sein. Es handelt sich hier um elementare, allgemeingültige
Daten über die qualitative und quantitative Beschaffenheit eines jeden
Produkts. Das aber ist nichts Anderes, als der einleitend erwähnte
stoffliche Reichtum.

Um zu demonstrieren, welche Möglichkeiten diese Technologie daher
bieten könnte, bediene ich mich folgenden Beispiels: des
Warenberichts. Mir selbst ist erst vor gar nicht allzu langer Zeit
aufgefallen, wie sehr sich in den Medien der Wetterbericht und der
Börsenbericht ähneln; sie werden nicht nur an fast gleicher Stelle
präsentiert, sondern man bedient sich einer fast gleichlautenden
Terminologie - in meiner Lokalzeitung findet sich gar der Begriff
"Börsenwetter". Das muß nicht mal Absicht sein, denn: Insoweit sich
die Menschheit mit der Entwicklung des Kapitalismus selbst von ihrer
überwältigen Abhängigkeit von den Wechselfällen ihrer natürlichen
Umwelt befreien konnte, tat sie dies durch die nicht-bewußte und
unbeabsichtigte Schaffung einer quasi-natürlichen, durch Arbeit
konstituierten Herrschaftsstruktur, einer Art "zweiten Natur". Sie
überwand die Herrschaft der ersten, der natürlichen Umwelt um den
Preis der Konstituierung der Herrschaft einer zweiten Natur. [1,
S.572]

Durch das Internet der Dinge entstehen an einer Vielzahl von Orten, an
jedem "Savant" dezentral die Daten über die Waren, deren Bewegungen
und aktuelle Verteilung. Man könnte also mit entsprechenden Modellen
die Vorgänge in der "zweiten Natur" beschreiben. Das heißt:

Auf Grund der Tatsache, daß eine einheitliche, referenzierbare (oder,
in der Wortwahl meines Vorredners, zitierfähige[5]) Datengrundlage
entsteht, ließen sich zum einen alternative Möglichkeiten des
Wirtschaftens zumindest zunächst einmal simulieren, gleichzeitig
könnte auf dieser Grundlage eine Markttransparenz geschaffen werden,
und schließlich ließe sich eine andere Art der Zusammenarbeit
realisieren, als sie heute machbar ist.

Hier tut sich allerdings ein zweifaches Dilemma auf: zum einen stehen
diese Daten in keiner Weise uneingeschränkt zur Verfügung. Es kann
heute gar nicht im Interesse der privaten Produzenten liegen, Zugriff
auf ihre ureigensten Produktionsdaten zu ermöglichen - ich stoße in
empfindlicher Weise an die durch die "zweite Natur" errichteten
Schranken. Hierfür gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe:

o    Bewahrung von Betriebsinterna

o    Wahrung von Geschäftsgeheimnissen

o    Produkthaftung

o    Garantiebedingungen usw.

Zum anderen jedoch läßt sich dieses System, welches hinter der
einheitlichen Produktnummer steht und diese auch nur sinnvoll macht,
nur schwer mit den privatwirtschaftlichen Interessen der einzelnen
Marktteilnehmer vereinbaren.

Das läßt sich derzeit belegen an den Problemen um EPC-Global, die
Organisation, die mit der Durchsetzung der EPC betraut ist, was im
RFID-Journal mit der Schlagzeile: Wird EPC scheitern?[6] thematisiert
wurde. Es gibt nämlich etliche große Markkteilnehmer, die sagen, sehr
schön, diese einheitliche Produktnummer, aber wir haben bereits unsere
eigenen Systeme, und bei denen möchten wir bleiben. Hier ist
sicherlich noch eine sehr interessante und spannende Entwicklung zu
beobachten. Außerdem ist derzeit noch nicht geklärt, auf welche Weise
z.B. die Kosten für die Schaffung der notwendigen Infrastruktur, etwa
die Lesegeräte und die Savants, verteilt werden sollen. Und
schließlich gibt es auch von Seiten der Verbraucher berechtigte Sorge
hinsichtlich des Datenschutzes.

Wie nun kann man daran denken, dieses Dilemma aufzulösen?

Am 15. März 1962 - heute ist der 15. März der Weltverbrauchertag -
verkündete John F. Kennedy die vier Grundrechte der Verbraucher:

o    das Recht auf sichere Produkte

o    das Recht auf offene Information über die Waren und
     Dienstleistungen

o    das Recht auf freie Auswahl zwischen den Konsumgütern und

o    das Recht auf politische Interessenvertretung.

Sieht man sich die heutige Praxis an, stellt man überrascht fest, daß
diese Forderungen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.
Offenbar muß man sich diese Rechte ständig neu erkämpfen.

Das führt uns zur Frage des mündigen Verbrauchers. Eigentlich ist es
nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht, sich zu informieren
über die Zusammensetzung, Herkunft usw. der Produkte, welche man
täglich verwendet.[7] Man muß also hier ansetzen, um derart der
Forderung nach Offenlegung der Produktionsdaten Nachdruck zu
verleihen. Es könnte sehr wohl eine Wechselwirkung entstehen: die
Möglichkeit der vollständigen Produktinformation führt - allerdings
keineswegs zwangsläufig - zum mündigen Verbraucher.

Ein ganz anderer Weg der Nutzung des Internets der Dinge wäre
schließlich folgender: aus einer Studie, welche von der
Verbraucherorganisation Foodwatch in Auftrag gegeben wurde, geht
hervor, daß ökologisch erzeugtes Fleisch unter anderem deshalb
wesentlich teurer ist, als "normales" Fleisch, weil die Kosten für die
Verteilung viel höher sind, als die der straff durchorganisierten
Supermärkte. Hier könnte die Anwendung des "Internet der Dinge" neue
Möglichkeiten erschließen. Ähnliches kann man sich vorstellen
hinsichtlich der Zusammenarbeit regionaler Produzenten.

Schlußbemerkungen
=================

Offene Systeme in der Produktion sind jetzt oder in unmittelbarer
Zukunft technisch machbar. Ihre Durchsetzung ist aber offenbar in
erster Linie eine politische Frage.

Ein wichtiger Aspekt darf zum Schluß nicht unerwähnt bleiben: nach
Stefan Meretz benötigt eine universelle Produktion - und das "Internet
der Dinge" weist in diese Richtung - auch einen universellen Menschen.
Durch die Realisierung des "Internets der Dinge" werden massenhaft
Arbeitsplätze, welche bislang Hilfarbeitern vorbehalten waren,
wegrationalisiert; es entstehen jedoch Minijobs für Akademiker.

Referenzen
==========

[1]

     Moishe Postone, "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft",
     Freiburg 2003

______________________________________________________________________

[1] Die Produktionsweise sollte im Kapitalismus nicht im Sinne von
technischen "Produktivkräften", die von gesellschaftlichen
"Produktionsverhältnissen" getrennt sind, verstanden werden...,
sondern in Bezug auf den Widerspruch zwischen Wert und stofflichem
Reichtum, das heißt als materialisierter Ausdruck beider Dimensionen
der Arbeit im Kapitalismus und damit als Ausdruck sowohl der
Produktivkräfte als auch der Produktionsverhältnisse. [1, S.306]. Ich
verwende den Begriff in diesem Sinne.

[2] http://www.oekonux.de/projekt/liste/archive/msg04097.html: This is
about an IT revolution that occurred, roughly, between 4-500 AD to
1500 AD and culminated in the printing press, enlightenment and
incidentally capitalism......... There is a new IT revolution at our
hands called Internet and Free Software might just be a very important
social configuration of "Cyberspace"....

[3] Die genaue Spezifikation steht unter www.epcglobalinc.org

[4] c't magazin für computer technik, 9/2004, S.122ff.

[5] Zur Bedeutung der Zitierfähigkeit von Wissen für die Herausbildung
der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Michael Becker-Mrotzek,
"Mündlichkeit - Schriftlichkeit - Neue Medien",
http://www.uni-koeln.de/ew-fak/Deutsch/materialien/mbm/downloads.htm/mueschrneumed.rtf,
S. 19: Damit betritt der moderne Autor - als Verantwortlicher seiner
Texte - die Bühne der (bürgerlichen) Öffentlichkeit. ... Erst mit dem
gedruckten, und damit unveränderlichen und paginierten Buch wurde das
exakte Zitieren möglich. Und erst der Buchhandel eröffnete die
Möglichkeit einer schriftlichen Gegenöffentlichkeit.

[6] Mark Roberti, Is EPC-Global foundering?
http://www.rfidjournal.com/article/articleview/880/1/2/

[7] Hierzu vgl. Birgit Niemann: Die Nahrung, einst stoffliche
Schnittstelle des Menschen zum "Rest" der biologischen Welt,
integriert ihn heute komplett in den "Stoffwechsel" der
Life-Science-Kapitale... Die realen Akkumulationserfolge der in diesem
Marktsegment tätigen Kapitale schlagen sich zur Zeit in zweistelligem
Umsatzwachstum nieder. Aus Birgit Niemann, "Die Renaissance des
biologischen Menschen", Krisis 26, Januar 2003


_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.org/
Organization: projekt oekonux.de



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